Mein T'ai Chi-Weg
Unsere langjährigen T’ai Chi Schüler wissen, dass Toyo und ich in den Zeiten unseres gemeinsamen Unterrichtens schon lange eigene Schwerpunkte gesetzt hatten. Bei Toyo war es sein Interesse an der Selbstverteidigung des T’ai Chi Ch’uan, seinen Techniken und dem Einsatz und Erforschen der inneren Energie. Ein Know-how von dem wir in unserer Familie wie in unserem Schülerkreis in hohem Maße profitiert haben und dies immer noch tun.
Mein eigenes Interesse galt vorrangig dem Üben und Erforschen der Formen. (Formen sind die im T’ai Chi geübten, zusammenhängenden Bewegungsabläufe). Auch wenn ich über viele Jahre mit Toyo Push Hands (Partnerübungen) und die Anwendung der Selbstverteidigungstechniken geübt hatte, blieb mein Interesse doch auf das Üben der Formen bezogen. In dem Unterricht, den Toyo und ich über vier Jahrzehnte in Seminaren, Wochenenden und wöchentlichen Gruppen gemeinsam vornahmen, fand sich oftmals diese Aufteilung. Die von Toyo und mir veröffentlichten Bücher über T’ai Chi Ch’uan geben unser dahingehendes Lernen und Forschen wieder.
In dem Unterricht wie er heute von unserer Familie wie auch unseren unterrichtenden Schülern vorgenommen wird, pflegen wir das von Toyo eingebrachte Wissen.
Es ließe sich erwarten, dass damit dargestellt sei, wie wir in unserem Kreis jetzt und auch in Zukunft fortfahren. Die Ausrichtung meines Übens hatte mir aber schon lange einen eigenen Zugang zum T’ai Chi Ch’uan eröffnet.
Während in der T’ai Chi-Welt oftmals nach Möglichkeiten gesucht wird, T’ai Chi etwa in der Selbstverteidigung durch Hinzunahme anderer Methoden möglichst schnell effektiv zu gestalten, ließ mich dies weitgehend unbeeindruckt. Ich sah einen Ansporn in dem Satz von Yang Cheng Fu gegeben: „Man übt die Form und die Vervollkommnung stellt sich von selbst ein“. Der Satz motivierte mich, mein Üben vorrangig dem der Formen zu zuwenden. Ich wollte die Bedeutung dieses Satzes ergründen.
So ein Üben durchzuführen, lässt sich in einer Partnerschaft nur realisieren, wenn es vom Partner unterstützt wird. Das tat Toyo. Er förderte meinen Weg und hat so gesehen wesentlichen Anteil daran. Seine Unterstützung war auch deshalb unerlässlich, weil ich damit begonnen hatte, über Jahre, wie von Fu Zhong Wen empfohlen, die Lange Form täglich 10 - bis 12 mal ohne Unterbrechung zu üben.
Die Zugänge, die dieses Üben erbrachten, sind in meinem Buch T’ai Chi Ch’uan und die 8 Richtungen – Auf der Suche nach den Anfängen (2014) niedergelegt. Dort ist der Verlauf meines Übungsweges in den Jahren 2000 bis 2014 dargestellt – soweit dies in Buchform umsetzbar ist. Es wird unter anderem beschrieben wie eine im Menschen angelegte innere energetische Struktur gefunden wurde, die die äußere Gestalt der Formen und deren Ausführung sinnvoll erklärt. Eine Struktur, die den Rumpf mit den Armen (im sogenannten Armbogen) und den Beinen (im sogenannten Beinbogen) verbindet. Gleichmäßige Drehbewegungen einer inneren energetischen Entsprechung des Rumpfes, der sogenannten Rotunde, leiten dem Mühlstein-Prinzip folgend, die innere Energie entlang dem Arm- und Beinbogen. So lassen sich die Bewegungen des Rumpfes und der Gliedmaßen von innen her führen. Eine Vorgehensweise, wie sie in den klassischen Schriften formuliert ist: Geist – Energie – Körper. Eingebunden in die für T’ai Chi kennzeichnenden Vorgaben, wie seine langsame Bewegungsweise, lässt sich diese Ausführung als Hinweis auf ein Wissen verstehen wie es in den Anfängen des T’ai Chi Ch’uan gegeben war.
Die innere Ausführung gibt der Umsetzung hoher taoistischer Werte wie dem Sich-Zurücknehmen, Geschehen-Lassen und der Absichtslosigkeit auf einzigartige Weise Raum. Der taoistische Hintergrund des T’ai Chi Ch’uan erfüllt sich mit neuer Bedeutung – trägt es mit dem „T’ai Chi“ doch ein Synonym für das Tao (das Höchste-Letzte) in seinem Namen.
Über die innere Ausführung eröffnet sich ein differenzierter Zugang zu den Partnerübungen, den Selbstverteidigungstechniken in den Formen, auch der Schwertkunst. Der Begriff „Energie“ (kantonesisch: Ch’i) erweitert sich. Ein verfeinerter Zugang zum Bereich des Immateriellen, in den die Lebensenergie eingebunden ist, erschließt sich. Energie wird nicht mehr als etwas wahrgenommen, das der Entwicklung bedarf, es geht vielmehr darum, einen Zugang zu dieser, in unvorstellbarer Kraft, überall vorhandenen Energie her zu stellen. Ein Zugang, der in der Vorgehensweise des T’ai Chi angelegt ist.
Wir befinden uns seit dem Jahr 2016 also nicht in einer gänzlich neuen Periode. Es wird fortgeführt was Toyo im Hinblick auf T’ai Chi eingebracht hat und weitergegeben was seit Anfang der 1990er Jahre und dann verstärkt seit dem Jahr 2000 durch meinen Zugang in unsere Tradition eingeflossen ist. Seit dem Jahr 2006 arbeite ich mit fortgeschrittenen T’ai Chi - Schülern in Seminaren an der inneren Ausführung im Zusammenhang einer durchgängig geübten Form, unter der Bezeichnung „Lange Form 2“. Dabei orientieren wir uns in vielerlei Hinsicht an der Form von Yang Cheng Fu, des Lehrers von Cheng Man Ch’ing.